Die Patienten selbst haben oftmals keinen Überblick über die bereits gestellten Diagnosen, notwendige Kontrolluntersuchungen bei Fachärzten oder die Einnahme ihrer Medikamente. Es gilt Licht ins Dunkel zu bringen. Hierfür schlägt der folgende Auszug aus dem Text Komplexe Pflege: Behandlung eines älteren Patienten mit mehreren Komorbiditäten (Quelle englisch: Complex Care: Treating an Older Patient with Multiple Comorbidities | AAFP) ganz praktische Lösungen vor:
“Obwohl es Leitlinien für das Management einzelner chronischer Erkrankungen gibt, fehlt die Evidenzbasis für das Management multipler Komorbiditäten. Die American Geriatrics Society beschrieb 2012 einen klinischen Ansatz für das Management von Patienten mit multiplen Komorbiditäten. Die Herausforderung des Managements multipler Komorbiditäten kann durch eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz verschärft werden, die bei älteren Menschen, einkommensschwachen Personen und bestimmten Minderheiten, wie z. B. Menschen lateinamerikanischer Herkunft (es ist zu berücksicktigen, dass die Studie in den USA durchgeführt wurde, wo diese Bevölkerungsgruppe als „Minderheit“ definiert wird), häufiger anzutreffen ist. Für einen typischen älteren Patienten ist die medizinische Versorgung komplexer geworden und umfasst mehrere Schritte mit einem entscheidenden Informationsaustausch. Die meisten Ärzte haben zwischen 15 und 30 Minuten Zeit für einen Kontrollbesuch, was oft nicht ausreicht, um viele oder alle Komorbiditäten effektiv zu behandeln. Mit der folgenden Managementstrategie wird versucht, die klinischen und systembedingten Herausforderungen anzugehen. Darüber hinaus kann die Anwendung eines Ansatzes, der auf dem Akronym PACE basiert, den Ärzten helfen, sich während der Besuche bei diesen Patienten zu konzentrieren (Tabelle 1)[...]”
Erklärung von PACE
Das Akronym PACE setzt sich aus den englischen Begriffen Prioritize, Ask, Communicate, Collaborate, Coordinate und Employ zusammen. Wir stellen im folgenden Abschnitt die Tabelle vor und die damit verbundene Beschreibung der vier Lettern. Denn der Text, aus dem wir zitieren, ist zwar in erster Linie aus Sicht der Ärzte für Pflegekräfte verfasst, er kann jedoch wunderbar auf die Physiotherapie übertragen werden. “In der Physiotherapie ist es besonders wichtig, einen gezielten Ansatz bei der Behandlung von Menschen mit Komorbiditäten zu verfolgen, da diese Patienten oft an mehreren chronischen Erkrankungen gleichzeitig leiden. Eine individualisierte Herangehensweise stellt sicher, dass alle gesundheitlichen Probleme angemessen berücksichtigt werden. Anstatt sich nur auf eine Krankheit zu konzentrieren, ermöglicht ein systematischer Ansatz eine effektivere Behandlung und verbessert die Lebensqualität der Patienten, indem er die Belastung durch ihre Erkrankungen verringert und Komplikationen vermeidet”, stellt Hanna Thanscheidt, Physiotherapeutin bei Bunz mobile Physio klar.
Hier die Tabelle mitsamt einem Auszug ihrer Bedeutung:
“Ein praktischer Ansatz zur Behandlung älterer Patienten mit Komorbiditäten:
P | Prioritize |
A | Ask |
C | Communicate, Collaborate, Coordinate |
E | Employ |
PRIORISIEREN
Bei der Priorisierung geht es darum, die Probleme zu identifizieren, die bei diesem Besuch behandelt werden müssen, und diejenigen, die bis zum nächsten Besuch warten können. Konzentrieren Sie sich auf die Probleme, die in den nächsten Tagen oder Wochen zur größten Morbidität und möglicherweise zur höchsten Mortalität führen können. Eine Besprechung der Agenda des Patienten und Ihrer eigenen zu Beginn des Besuchs wird dazu beitragen, einen realistischen Rahmen für die Punkte zu schaffen, die in der verfügbaren Zeit behandelt werden sollen[…]
EFFEKTIV KOMMUNIZIEREN
Eine gute Kommunikation ist der Schlüssel zum Umgang mit älteren Patienten, die an Komorbiditäten leiden […] Beginnen Sie damit, den Patienten nach seinen dringendsten Anliegen zu fragen. Es ist angebracht, nach allgemeinen und spezifischen Zielen und Werten zu fragen, sowie nach der Präferenz für einen bestimmten Aktionsplan. Mit den Methoden "fragen-erzählen-nachfragen" und "lehren-zurück" lässt sich herausfinden, wie der Patient die wichtigsten medizinischen Konzepte oder Empfehlungen versteht. Vermeiden Sie medizinischen Fachjargon und verwenden Sie lieber konkrete und direkte Worte als abstrakte Terminologie. [...] Wenden Sie sich mit dem Einverständnis des Patienten an einen Betreuer oder ein verantwortungsbewusstes Familienmitglied und geben Sie ihm oder ihr einige Aufgaben, die er oder sie erledigen und zu einem bestimmten Zeitpunkt an Sie zurückmelden soll [...]
EVIDENZBASIERTE MEDIZIN ANWENDEN
Die Anwendung eines patientenspezifischen, evidenzbasierten Ansatzes hilft dabei, den Nutzen und Schaden diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen abzuwägen. Die Überprüfung aktueller Praxisempfehlungen und die Berechnung der absoluten Risikoreduktion und der für die Behandlung erforderlichen Anzahl von Patienten dient als Richtschnur für Managemententscheidungen […].”
Was sind die dringendsten Probleme?
Hanna kommentiert die Ansätze aus dem Blickwinkel der Physiotherapeuten: “Da diese Patienten mehrere gesundheitliche Probleme haben, ist es wichtig, zu Beginn einer Therapieeinheit das Hauptproblem für den Patienten herauszufinden? Dies könnte zum Beispiel eine akute Schmerzlinderung oder die Verbesserung der Mobilität sein, um Stürze zu verhindern, die eine unmittelbare Gefahr darstellen könnten. Andere, weniger dringende Probleme können in zukünftigen Sitzungen angegangen werden. Ein offenes Gespräch mit dem Patienten zu Beginn der Sitzung hilft dabei, die wichtigsten Ziele festzulegen und sicherzustellen, dass sowohl die Erwartungen des Patienten als auch die klinischen Prioritäten des Therapeuten in Einklang gebracht werden. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass besonders die älteren Menschen mit Komorbiditäten oft eine geringe Gesundheitskompetenz aufweisen. Doch gerade sie müssen häufig komplexe Behandlungspläne und viele unterschiedliche Gesundheitsinformationen, aber auch ihre Medikamentierung verstehen. Ansonsten kommt es zu Schwierigkeiten bei der korrekten Umsetzung, was den Erfolg der Therapie gefährdet oder sogar Komplikationen verursachen kann. Um sich selbst ein eingehendes Bild machen zu können, ist es sinnvoll, sich von den behandelnden Ärzten, Pflegepersonal und Angehörige Informationen zu holen.”
Effekte von Trainingsprogrammen
Zusätzlich gibt es auch wissenschaftliche Untersuchungen, was die Physiotherapie in diesem Kontext betrifft. Wir haben einen Artikel gefunden, der sich mit Studien zu den Effekten von Übungs-und Trainingsprogrammen bei Patienten mit Multimorbidität beschäftigt. Im Beitrag “Multimorbidität: Welchen Nutzen haben Übungs- und Trainingsprogramme?” (PT Zeitschrift für Physiotherapie Dezember 2020 S.60) ist zu lesen: “[...] Der Fokus der Forscher lag auf folgenden Zielgrößen: gesundheitsbezogene Lebensqualität, körperliche Funktionsfähigkeit, Depression und Angst. Zudem extrahierten sie Angaben zu unerwünschten Ereignissen im Zusammenhang mit Übungs- und Trainingsprogrammen [...]”
Dabei kamen die Forscher zu folgendem Ergebnis:
“[...] Die Auswertung zeigt, dass Übungs- und Trainingsprogramme sich positiv auf Lebensqualität, Funktionsfähigkeit, Depression und Angst auswirken. Die Maßnahmen standen nicht mit einem größeren Risiko für unerwünschte Ereignisse im Zusammenhang. Das Gegenteil war sogar der Fall. Patienten, die an Übungs- und Trainingsinterventionen teilnahmen, hatten diesbezüglich ein geringeres Risiko im Krankheitsverlauf. Mit zunehmendem Alter nahm der positive Effekt auf die Lebensqualität allerdings ab. In Bezug auf eine Reduzierung der psychologischen Parameter profitierten vor allem Patienten mit einem hohen Depressionslevel zu Beginn. Die Forscher schlussfolgern, dass Übungs- und Trainingsprogramme für multimorbide Patienten wahrscheinlich sicher sind und außerdem positive Auswirkungen auf körperlicher und psychosozialer Ebene haben. Sie heben insbesondere das Potenzial von Übungen und Training im Rahmen von Management und Versorgung dieser Zielgruppe hervor [...].”
Dass körperliche Beschwerden oft Hand in Hand mit psychischen Beschwerden gehen, ist allgemein bekannt. Genau wegen dieses Zusammenhangs muss aber bei einem ganzheitlichen Ansatz eben auch die psychische Verfassung des Patienten individuell abgeklärt werden. Therapeuten, die dies im Auge haben, können erfolgreicher therapieren.
Das deckt sich mit den Erfahrungen, die Hanna Thanscheidt in ihrem beruflichen Alltag machte. “Für Physiotherapeuten ist es entscheidend, Patienten mit Komorbiditäten und psychischen Erkrankungen gut zu verstehen, weil diese oft komplexe, miteinander verknüpfte gesundheitliche Probleme haben. Ein tiefes Verständnis ermöglicht es, individuelle Therapiepläne zu entwickeln, die sowohl körperliche als auch psychische Aspekte berücksichtigen. Zudem hilft es, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, weil diese für den Therapieerfolg entscheidend ist.”
Körper und Seele hängen zusammen
Ein Blog-Beitrag auf SART mit dem Titel “Physiotherapie und Mental Health: zu gesund für die Psychiatrie, zu komplex für die Physiotherapie?” beleuchtet die Überschneidungen und Blickwinkel dieser beiden Fachbereiche eingehend. Wo genau liegen die Potenziale, aber auch Herausforderungen?, fragen sich hier Dres. Maurizio Trippolini und Emanuel Brunner.
“«No health - without mental health AND physical health.» - Die Zusammenhänge zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit, sowie der Einfluss des körperlichen Trainings auf dieselben, sind bekannt (Stubbs & Rosenbaum, 2018). Physiotherapeutinnen und -therapeuten können in dem Bereich Mental Health eine wichtige Rolle einnehmen. [...]
Bei Schmerzen am Bewegungsapparat wird die Genesung maßgeblich durch psychologische Faktoren beeinflusst. Zudem leiden Personen mit chronischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Herz- oder Lungenkrankheiten, Diabetes oder chronischen Rückenschmerzen sehr häufig auch an einer psychischen Komorbidität. Aber auch Patientinnen und Patienten mit Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie sind oft von körperlichen Krankheiten betroffen [...].
Patientinnen und Patienten mit einer psychischen Komorbidität hatten dabei gegenüber den Fällen ohne psychische Komorbidität eine fast doppelt so hohe Aufenthaltsdauer im Spital (9,6 % vs. 5,1 %), eine erhöhte Re-Hospitalisationsrate (4,9 % vs. 2,5 %), sowie eine erhöhte Mortalitätsrate (3,8 % vs. 1,7 %) (Tuch, 2018). Aufgrund der offensichtlichen Zusammenhänge zwischen der mentalen und körperlichen Gesundheit ist eine integrierte Grundversorgung respektive die frühzeitige und gleichzeitige Behandlung sowohl psychischer wie auch körperlicher Beschwerden von größter Bedeutung [...]”
Physisches Training unterstützt die Psyche
Dieser Beitrag unterstützt die Thesen des Berichts Multimorbidität: Welchen Nutzen haben Übungs- und Trainingsprogramme? aus der PT (siehe oben). Demnach hat körperliches Training äußerst positive Effekte bei Patientinnen und Patienten mit psychischen Problemen und Erkrankungen, belegt aber auch die präventiven Aspekte:
“[...] Eine Analyse, basierend auf Daten von mehr als 260 000 Personen, hat gezeigt, dass ein regelmäßiges physisches Training einen schützenden Effekt auf die Entstehung von Depressionen hat (Schuch et al, 2018). Zudem verstärkt körperliches Training die Wirkung von psychologischen und pharmakologischen Behandlungen von psychischen Krankheiten (Stubbs & Rosenbaum, 2018). Entsprechend der Bedeutung physischer Aktivität im Bereich Mental Health lautete der Slogan des Weltverbands für Physiotherapie zum Tag der Physiotherapie 2018: «Physical therapy and mental health: demonstrating the role that physical therapy and physical activity has in mental health.»
Physiotherapie im Bereich Mental Health ist mehr als nur körperliches Training. Physiotherapeutinnen und -therapeuten nutzen körperorientierte Strategien zur Veränderung von Gedanken, Emotionen und Verhaltensmustern, die meist im Zusammenhang mit körperlichen Beschwerden stehen (Probst & Skjaerven, 2018). Die Physiotherapie beinhaltet dann auch Entspannungstechniken zur Stress- und Spannungsregulierung oder verhaltenstherapie-basierte Techniken zur Erarbeitung von Strategien im Umgang mit psychischen und körperlichen Beschwerden. [...]
Menschen mit einer psychisch-somatischen Komorbidität werden in der Gesundheitsversorgung oftmals von dem Gefühl begleitet, nicht ins System zu passen. Die komplexen psychologischen Probleme können die Möglichkeiten der Grundversorgung überfordern, und die somatischen Diagnosen erklären die Beschwerden der betroffenen Person oftmals nicht oder nur ungenügend. Gleichzeitig fühlen sich viele Patientinnen und Patienten zu «gesund» für die Psychiatrie, oder haben Vorurteile gegenüber einer psychologischen Behandlung. Die Physiotherapie kann eine wichtige Brücke bauen zwischen der psychiatrischen und somatischen Versorgung: [...]”
Sich einzugestehen, dass man körperliche Probleme hat, ist oftmals viel leichter, als wenn es sich um psychische Probleme handelt. Sich dann auch noch aufzuraffen, um psychiatrische Unterstützung zu organisieren, ist für viele Patienten eine weitere große Hürde. Für genau diese Patienten wäre Physiotherapie der perfekte Zugang, der entscheidende Schlüssel, um vielleicht langfristig am gesamten “System” Hilfe und Heilung zu erfahren.
Abschließend lässt sich sagen, dass die Berücksichtigung von Komorbiditäten in der Physio- bzw. Ergotherapie eine zentrale Rolle spielt, um eine ganzheitliche und effektive Behandlung zu gewährleisten. „In der Arbeit mit älteren Patienten mit Komorbiditäten ist Geduld, Aufmerksamkeit und eine ganzheitliche Betrachtung entscheidend,“ betont Ekaterina Bunz, Teamleiterin bei Bunz mobile Physio. „Es geht nicht nur darum, die körperlichen Beschwerden zu lindern, sondern den Menschen als Ganzes zu sehen. Jeder Therapieansatz muss individuell auf die Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten sein – sowohl physisch als auch psychisch. Nur so können wir echte Fortschritte erzielen und die Lebensqualität nachhaltig verbessern."