Das verschafft Sergej die Möglichkeit, analytisch zu beschreiben, mit welchen Elementen man seine Fähigkeiten trainieren kann, um neue Patienten richtig zu befunden, für sie einen individuellen Therapieplan zu erstellen und sie durch das Setzen eines langfristigen Zieles zur eigenen Mitarbeit zu motivieren: „Als Physiotherapeut muss ich mir bereits im ersten Termin in Sekundenschnelle möglichst viele Informationen über den Patienten holen. Hierfür muss ich den Patienten gut beobachten, noch so kleine Kleinigkeiten wahrnehmen und jede seiner Reaktionen speichern. Hierfür ist jedes Indiz aufschlussreich, von seiner Gangart über die Haltung der Schultern bis hin zu seiner Körperspannung. Auch sein Umfeld, seine Wohnung kann mir viele Informationen geben.”
Die Behandlung optimal angehen
Im Gespräch mit Sergej haben wir uns drei Tools genauer erklären lassen, die wir euch heute vorstellen möchten. Er wendet diese schon lange an, für ihn sind sie essentiell zur Erstellung eines Therapieplans. Wir sind nämlich der Frage auf der Spur, wie man einen Patienten und dessen körperliche Probleme möglichst präzise erfassen kann. Das ist für jeden Physiotherapeuten hilfreich, um die Behandlung optimal angehen zu können.
Drei Tools helfen beim Therapieplan
Die erste Übung, Sergei nennt sie die Gebäude-Übung, hat ihm die Kinderphysiotherapeutin Franziska Rau gezeigt. Dank ihr kann eine möglichst genaue Aufnahme des Befundes trainiert werden. Die zweite Übung, die Streichholzschachtel-Übung, stammt vom russischen Psychologen Alexej Sitnikov. Sie schult das visuelle Gedächtnis und ist hilfreich bei der Begleitung der Therapie. Der dritte Part ist keine Übung im eigentlichen Sinne. Sergei nennt es das “Setzen eines Ankers”, also das Finden eines Zieles, das den Patienten motiviert, aktiv mitzuwirken.
Präzises Hinsehen trainieren
Bei der so genannten Gebäude-Übung soll das Auge darin geschult werden, möglichst lange hoch konzentriert auf einem Gegenstand / einer Person verweilen zu können, um möglichst viele Details erfassen zu können. Es ist laut Sergej möglich, die Aufmerksamkeitsspanne dadurch zu verlängern und das visuelle Betrachten zu üben.
Sergej beschreibt, wie es geht: Man muss sich ein Gebäude aussuchen, das man jeden Tag visualisieren kann. Bei ihm war es ein schöner Altbau, den er täglich beim Warten auf den Bus vis-a-vis der Haltestelle in Augenschein nehmen konnte. Sergej ließ seine Augen bei diesem historischen Gebäude von Detail zu Detail, von Fensterläden über Stuckarbeiten über Schnitzereien hin zu losen Fassadenteilen und lockeren Schindeln wandern. Indem er das Gebäude hochkonzentriert Tag für Tag neu inspizierte, konnte er laufend weitere winzige Dinge entdecken, die er in seinen vorhergehenden Betrachtungen übersehen hatte. Er trainierte sich selbst im präzisen Hinsehen, im Wahrnehmen von kleinsten Details.
Das Auge für den Sichtbefund schulen
So schulte er sein Auge gezielt für den Sichtbefund. „Wenn man diese Übung regelmäßig durchführt, lernt man, mit dem Auge möglichst lange verweilen und dabei möglichst viele Einzelheiten erfassen zu können. Es ist wichtig, über eine längere Zeitspanne die nötige Aufmerksamkeit erhalten zu können, um diese Kleinigkeiten zu sehen, auf die es eben auch ankommt. Sonst läuft man Gefahr, entscheidende Informationen zu übersehen. Auf den Patienten übertragen bedeutet dies, ich trainiere meine Konzentration, mir möglichst lange und aufmerksam einen visuellen Eindruck des Patienten verschaffen zu können und dabei möglichst viele Details über seinen Körper zu sammeln“, erzählt der Stuttgarter Physiotherapeut.
Unterschieden können: Pathologisch oder physiologisch?
Dank dieser Herangehensweise könne er schnell differenzieren, was entspricht der Norm und was entspricht nicht der Norm, ergo was ist also pathologisch und was ist physiologisch? Und dann erst erstellt Sergej eine Hypothese und überlegt sich, wie der richtige Behandlungsplan für diesen Patienten aussehen könnte. Um selbst immer wieder verifizieren zu können, ob man bei der Behandlung auf dem richtigen Weg ist, ist die zweite Übung dienlich.
Das Vorstellungsvermögen schulen
Sergej nennt sie die Streichholzschachtel-Übung. Diese wird über mehrere Wochen praktiziert. Man beginnt mit ein paar Streichhölzern. Diese lässt man locker aus der Hand auf den Tisch fallen und versucht, sich zu merken, wie sie liegen. Die einen zeigen mit den Köpfen nach unten, die anderen nach oben, nach rechts oder links. Nun schließt man die Augen und versucht sich vor Augen zu holen, wie sie liegen. Ein prüfender Blick bei wieder geöffneten Augen zeigt einem, ob man sich „das Bild“ richtig gemerkt hat. In regelmäßigen Abständen wie einer Woche nimmt man immer wieder ein Streichholz hinzu. „ Es ist erstaunlich, wie sehr man das eigene Vorstellungsvermögen schulen kann. Ich höre inzwischen bei 17 Streichhölzern auf“, lacht Sergej.
Körperliche Veränderungen umgehend wahrnehmen
Die Streichholzschachtel Übung hilft einem dabei, die dynamische Visualisierung zu trainieren. Übertragen bedeutet dies, ein Physiotherapeut bemerkt möglichst schnell körperliche Veränderungen bei seinen Patienten, sei es in der Körperhaltung oder bei den Bewegungsabläufen. „Erfreulich ist natürlich, positive Veränderungen wahrzunehmen und bestätigt zu sehen, dass man bei der Therapie den richtigen Weg eingeschlagen hat. Da wir alle aber sehr verantwortungsbewusst arbeiten, müssen wir umgekehrt auch sofort erkennen können, wenn sich der Zustand eines Patienten verschlechtern sollte. Denn dann besteht akuter Handlungsbedarf“, schildert Sergej.
Zur Motivation “einen Anker setzen”
Der dritte und letzte hilfreiche Ratschlag, den Sergei heute für uns parat hat, ist das „Setzen eines Ankers“. Das bedeutet, für den Patienten ein Ziel zu finden, das dieser erreichen möchte. So lassen sich die Patienten leichter motivieren und zur aktiven Mitarbeit bewegen.
Hierfür braucht ein Physiotherapeut offene Augen und Ohren. Er muss gut zuhören können, aber auch Fragen stellen. Er muss Details im Zuhause wie bevorzugte Literatur, Musikrichtungen oder Ernährungsgewohnheiten registrieren und sich ein Bild vom Umfeld, der Familie und den Hobbys machen. Nur dann findet ihr den nötigen Zugang, den er braucht, um dem Patienten „einen Anker zu setzen“.
Ein Ziel vor Augen bewirkt viel
Dieser kann beispielsweise so aussehen: Der 75 Jahre alte Patient Anton Singer hatte einen Schlaganfall und ist auf einer Körperseite schwer gehandicapt. Er hat einen zweijährigen Enkel, den er über alles liebt. In einem Halbsatz ließ Anton Singer fallen, wie sehr er vermisst, mit dem Kleinen zusammen auf dem Teppich im Wohnzimmer Lego zu spielen. „Ah“, sagt Sergej, “Sie möchten mit dem Kleinen also wieder auf dem Teppich rumrobben. Das schaffen wir schon. Wenn Sie das Bein, das jetzt Schwierigkeiten macht, ein bisschen trainieren, können Sie sich wieder auf den Teppich setzen und auch wieder alleine aufstehen.“ Und schon ist vor dem inneren Auge des Patienten ein Ziel entstanden. Der 75-jährige hat jetzt “einen Anker” im Kopf, wofür er täglich seine Übungen macht, nämlich für seinen kleinen Enkel und natürlich in erster Linie für sich selbst.