Ist ein Patient tatsächlich depressiv oder nur aufgrund der Umstände seiner Erkrankung niedergeschlagen? Muss ich das in meinem Vorgehen beachten? Wie finde ich den richtigen Zugang zu diesen Patienten? Diese Fragen stellen sich viele Physiotherapeuten, wenn sie depressive Patienten behandeln. Der Umgang mit psychisch kranken Patienten kann eine große Herausforderung sein. Daher haben wir in einer kleinen Diskussionsrunde mit Sergej Schanowski dieses Thema beleuchtet.
Depression bei der Physiotherapie berücksichtigen
Gleich zu Beginn das Fazit: “Wir müssen uns stets vor Augen halten, dass Physiotherapeuten nicht für die Heilung der Depression zuständig sind, denn wir sind weder Neurologen noch Psychologen. Als Physiotherapeuten sind wir jedoch in der Verantwortung, eine bestehende Depression in die Therapie mit einzubeziehen”, bringt es Wolfgang Bunz, Geschäftsführer von Bunz mobile Physio auf den Punkt.
Lediglich einen Input zu geben auf unterschiedlichen Ebenen, so dass der Patient anfängt, sich besser zu fühlen und seine Selbstheilungskräfte aktiviert werden“, dieses Prinzip verfolgt Sergej bei Patienten mit und ohne Depressionen. Und dennoch berücksichtigt er bei depressiven Patienten bestimmte Punkte, die wichtig sind, um einen Handlungserfolg zu erzielen. Er bestätigt, was im Artikel der Physiopraxis (022018, S. 27ff) steht: “Was für andere Menschen normal und alltäglich ist, stellt für sie eine unüberwindbare Herausforderung dar. In der physiotherapeutischen Praxis sind sie daher häufig durch aktive Behandlungsmethoden überfordert [...].”
Die erste Begegnung ist oft wegweisend
Gerade bei depressiven Patienten ist der erste Termin oft wegweisend. Sergej rät deshalb, unbedingt zwei Dinge zu beachten. Erstens, sich selbst vor Übertragung zu schützen - sich also nicht mit "runterziehen” zu lassen. Die Tools dafür erklärt er uns später. Wer das beachtet, schafft auch gut den zweiten Punkt, nämlich den Patienten erstmal nur “sein” zu lassen.
“Du bist, wie du bist, und ich bin, wie ich bin. Ich darf den Zustand eines Patienten nicht bewerten. Ich habe ihn so zu nehmen, wie er ist. Und wenn er anders ist, gibt es eine Ursache, weshalb er so ist. Auch das habe ich nicht zu bewerten,” sind die inneren Dialoge von Sergej. So schafft er es, für sich selbst die nötige Distanz zu erhalten und gleichzeitig den Patienten zu akzeptieren, wie er ist. Dadurch fühlt er sich angenommen, er darf erstmal einfach nur “sein”.
Vertrauen ist ausschlaggebend für den Therapieerfolg
Wertfrei und ohne Vorbehalte zuzuhören, ist auch einer der Ratschläge des genannten Artikels zu depressiven Patienten in der Physiopraxis. “Suchen Sie während der Behandlung das Gespräch, fragen Sie nach Gedanken und Gefühlen”, raten die Autoren Dr. Sandra Maxeiner und Hedda Rühle. Sergej geht ähnlich vor, er ist sich der Brisanz der Situation bewusst: „Mit depressiven Patienten ist der Erstkontakt entscheidend. Es ist ein sehr schmaler Grat, einfach nur aktiv zuzuhören, wachsam zu sein und Informationen zu sammeln. Ist man am Anfang gleich zu offensiv, sind besonders depressive Patienten sehr schnell verschreckt. Bei ihnen dauert die Phase des Vertrauensaufbaus deutlich länger.” Das muss man im Blick haben, denn jetzt wird die Grundlage geschaffen, damit Vertrauen überhaupt entstehen kann. Und Vertrauen ist ausschlaggebend für den Therapieerfolg!
Zu Beginn der Therapie ein Ziel definieren
Hat ein Patient nun eine diagnostizierte Depression oder ist er nur aufgrund seiner krankheitsbedingten Umstände niedergeschlagen, macht für Serge keinen gravierenden Unterschied. Es gilt immer, zu Beginn der Therapie ein Ziel zu diagnostizieren. Wie leicht der Weg dahin wird, wieviel mehr oder weniger Motivation und Unterstützung der Patient hierfür braucht, hängt allerdings schon davon ab, welchen Menschen Sergej vor sich hat. Grob gesagt gibt es für ihn drei Kategorien: depressive Patienten, die oftmals sehr schwer zu therapieren sind, seelisch gesunde, jedoch inaktive Patienten, die nur mühsam aus ihrer Komfortzone kommen, und aktive Patienten, die eigentlich nur einen Wegweiser in die richtige Richtung brauchen.
Sergej baut jedem Patienten ein eigenes Haus
Sergej verwendet ein sehr schönes Bild, wenn er von der Therapie seiner Patienten spricht: “Ich baue jedem Patienten sein eigenes Haus.” Und das meint er so:
Erst wird das Fundament gelegt, heißt „nicht bewerten, nur akzeptieren!“ Sergej sieht sich seinen Patienten genau an und sammelte möglichst viele Informationen über diesen wie Medikamenteneinnahme, diverse andere Diagnosen, aber auch Details seiner Lebensumstände. All das braucht er, um später ein Ziel definieren zu können. Das Ziel ist für Sergej nicht, dass ein Patient gesund wird, das Ziel ist vielmehr eine Vision, die er dem Patienten wieder und wieder vor Augen hält, um ihn zum Mitmachen zu motivieren.
Auf dem Fundament entsteht das Erdgeschoss. Das Erdgeschoss symbolisiert das Vertrauen, das in dieser Phase entsteht. “Der Patient baut Vertrauen auf, weil er merkt, ich akzeptiere ihn so wie er ist. In dieser Phase fange ich an, Fragen zu stellen. Beispielsweise `Was hast du früher gerne gemacht, was hat dir Spaß gemacht oder macht dir heute noch Spaß, wo möchtest du hin?` Diese individuellen Antworten führen mich dann in das Dachgeschoss, das den Therapieplan symbolisiert.”
Für den Patienten ein Ziel finden
Besagter Therapieplan wird nicht nach Schema F erstellt. Denn Sergej möchte seine Patienten ins Boot holen, um den größtmöglichen Erfolg zu haben. Nur wenn ein Patient eine Vision hat, wenn für ihn ein dringender Wunsch in Erfüllung gehen kann, wird der Patient bereit sein, vollen Einsatz zu bringen - und das letztlich für sich selbst. “Für den Patienten ein Ziel zu finden, das ist meine Aufgabe im Fundament und Erdgeschoß. Und dafür muss ich aktiv zuhören und ihn kennenlernen”, beschreibt Sergej seine Vorgehensweise. „Jeder, wirklich jeder Patient würde sich gerne im Alltag wieder wie früher fühlen, leider auch neurologische oder onkologische Patienten, für die das manchmal nicht mehr möglich ist. Ich definiere nun ein Therapieziel, das ich auf viele kleine Schritte herunterbreche. Bei depressiven Patienten ist es dringend notwendig, diese Schritte noch viel kleiner zu halten, denn sie sind sehr schnell überfordert.“
Eine Vision ist die beste Motivation
Der Stuttgarter Physiotherapeut erzählt uns anhand eines Fallbeispiels, wie er vorgeht. Da gab es diesen verbitterten alten Mann, depressiv, seit 10 Jahren Witwer, zerstritten mit allen Nachbarn, und nun noch ein Schlaganfall, der ihn massiv beeinträchtigte. Sergej erinnert sich, wie verschlossen und schwierig dieser Mensch war. Über das im Hof geparkte Wohnmobil kamen die beiden während der Therapie dann doch ins Gespräch und Sergej erfuhr, dass das Wohnmobil Mittel zum Zweck war, seiner Angelleidenschaft nachgehen zu können. Und da entstand in Sergejs Kopf das Ziel, die Vision, die er ihm geben wollte: Irgendwann nochmal zum Fischen zu gehen!
Damit konnte er seinen Patienten im wahrsten Sinne des Wortes ködern. Wie ein Mantra wiederholte Sergej während der Therapie: “Wenn Du angeln gehen möchtest, musst Du Knoten knüpfen können!” Brav trainierte der ältere Herr intensiv seine Feinmotorik, indem er an einem Seil Knoten knüpfte wie früher an seiner dünnen Angelschnur. “Wenn Du angeln gehen möchtest, musst Du deine Beine bewegen können!” Und schon strengte sich der Patient enorm an, bis seine Beine endlich wieder gehorchten. “Wenn Du angeln gehen möchtest, müssen wir im Keller Deine Ausrüstung kontrollieren!” Willig übte sich der alte Schwabe nun im Treppensteigen, um selbständig in den Keller gehen zu können. Schritt für Schritt arbeiteten sich die beiden an ihr Ziel heran, das sie nach zweieinhalb Jahren tatsächlich umsetzen konnten. Und war gemeinsam. Denn seinen Schützling beim ersten Angelausflug nach dem Schlaganfall persönlich zu begleiten, ließ sich Sergej nicht nehmen.
Zusammenfassend bringt Sergej es nochmal auf den Punkt: “Du musst aus allen Umständen das Beste machen. Das große Ziel wird in möglichst viele kleine Etappen aufgeteilt. Das ist ganz wichtig, denn so kommt es öfter zu kleinen Erfolgserlebnissen und weniger Frustration.”
Frustration auf beiden Seiten vermeiden
Frustration ist übrigens besonders bei depressiven Patienten ein wichtiger Punkt, bei dem wir uns gut vorstellen können, dass er nicht nur für den Patienten, sondern vor allem für die Therapeuten zum Problem werden kann. Depressive “verweigern” oftmals aufgrund ihrer Erkrankung eine Mitarbeit, so dass körperlich weniger Fortschritte zu erzielen sind. Das darf kein Therapeut persönlich nehmen. Und auch nicht die Tatsache, dass der Depressive krank bleibt, weil depressiv, selbst wenn er körperlich wiederhergestellt ist. Unser Team-Management rät unseren Physio- und Ergotherapeuten aus diesem Grund: “Was für psychisch gesunde Patienten gilt, ist für depressive Patienten umso wichtiger. Sie müssen gleichzeitig mit größter Achtsamkeit und Vorsicht behandelt werden und dennoch mit der nötigen Distanz. Jedem Physiotherapeuten muss klar sein, eine Depression heilt nicht allein dadurch, dass der Patient irgendwann körperlich gesund ist. Nur weil sich seine Umstände positiv verändern, verschwindet nicht die Depression.“ Letztlich habe der Therapeut auf die Psyche in diesem Fall keinerlei Einfluss.
In der richtige Balance bleiben
Wir sehen schon, die Balance zu halten zwischen Nähe und Distanz, Empathie und Abgrenzung, ist gerade im Beruf eines Physio-/Ergotherapeuten nicht gerade leicht. Um diesen Drahtseilakt und wie er am besten bewerkstelligt werden kann, geht es im nächsten Fachgespräch mit Sergej Schanowski. „Man muss sich selbst gut kennen, um die negativen Gefühle nicht zu übernehmen und sich selbst vor Überreaktionen zu schützen. Das ist gar nicht leicht”, verrät dieser schon mal.